Interview mit Univ.-Prof. Dr. Stefanie HÖHL zum Thema Entwicklung von Empathie und Altruismus bei Kindern
Frau Professor Höhl, Sie forschen mit Ihrem Team an der Universität Wien zur frühkindlichen sozialen und kognitiven Entwicklung. In welchem Alter und wie findet die Entwicklung von Empathie bei Kindern statt?
Die Entwicklung von Empathie beginnt bereits kurz nach der Geburt. Bekanntlich beginnen Babys zu schreien, wenn sie ein anderes Baby schreien hören. Schon ganz früh in der Entwicklung kann man davon ausgehen, dass die Emotionen anderer Menschen „ansteckend“ sind. Unwillkürlich sind wir auch als Erwachsene von den Emotionsausdrücken anderer Menschen bewegt. Damit man aber wirklich von Empathie sprechen kann, muss noch mehr dazu kommen als diese ursprüngliche emotionale Ansteckung. Bei echter Empathie sind wir uns nämlich darüber bewusst, dass der Zustand eines anderen Menschen die Quelle unseres Gemütszustandes ist. Wir fühlen nicht (nur) wie die andere Person, wir fühlen mit der anderen Person. Hierfür ist es wichtig, dass Kinder die Fähigkeit entwickeln, die Emotionen, Wünsche und Bedürfnisse anderer Menschen von ihren eigenen abzugrenzen. Dies ist ein Prozess, der im Prinzip über die ganze Kindheit andauert. Bereits um den ersten Geburtstag herum können wir jedoch erste Ansätze beobachten: Wenn Babys beispielsweise sehen, dass Mama oder Papa sich den Fuß anstoßen und verletzen, weinen sie nicht etwa mit, sondern sie schauen besorgt und zeigen erste Anzeichen von helfendem Verhalten und Trösten.
Seit März 2020 bestimmt die Corona-Pandemie einen guten Teil unseres Alltages. Zum Schutz für uns und andere halten wir Abstandsregeln ein, tragen einen Mund-Nasen-Schutz und halten im Allgemeinen „social distancing“ ein.
Beeinflusst das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes und die damit einhergehende Reduktion der sichtbaren Mimik die Entwicklung von Empathie bei Kindern?
Wir drücken Emotionen mit dem ganzen Körper aus und auch mit der Stimme. Tatsächlich fehlen uns wichtige Informationen, wenn wir den Mund unseres Gegenübers nicht sehen können, was auch die sprachliche Kommunikation erschwert, da wir unwillkürlich immer auch ein bisschen Lippenlesen. Kindern wird es durch opaken Mund-Nasen-Schutz demnach auch erschwert, andere Menschen zu verstehen. Im Moment ist schwer abzusehen, wie sich diese Erfahrungen langfristig auf die Entwicklung von Kindern auswirken werden. So lange Babys und Kinder in ihrem Alltag hauptsächlich Menschen ohne MNS sehen, werden sie sicher genug Lernerfahrungen machen können, um Mimik richtig lesen zu lernen. Eine Kollegin von mir, die sich an der University of Florida mit der Entwicklung der Gesichtswahrnehmung befasst, spricht sich dafür aus, dass Betreuungspersonen, die beispielsweise in Kitas einen MNS tragen müssen, einen transparenten Schutz tragen, wie es ihn auch für Gehörlose gibt, die auf das Lippenlesen angewiesen sind.
Wie ist es mit „social distancing“ und der damit einhergehenden Reduktion von sozio-emotionaler Information?
Beim Stichwort „social distancing“ schließe ich mich dem Vorschlag einiger Kollegen und Kolleginnen an, dass „physical distancing“ eigentlich die passendere Formulierung wäre. Schließlich müssen wir physisch auf Distanz bleiben, sollten aber umso mehr über all die Kommunikationsmedien, die uns zur Verfügung stehen, zu den Menschen in unserem Leben möglichst engen Kontakt halten. Mittlerweile gibt es mehrere Studien, die zeigen, dass schon ganz kleine Kinder mittels Video-Chat positive Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen und sogar von ihnen lernen können. Das sind gute Nachrichten für alle Großeltern, die ihre Enkel momentan nicht live treffen können, ihnen aber zumindest über das Internet verbunden bleiben können.
Sehen Sie durch die Belastung der Eltern (Stichwort Home-Schooling, Homeoffice, Kurzarbeit etc.) eine negative Auswirkung auf die Entwicklung der Kinder?
Ja, denn eine längerfristige Überforderung der Eltern ist nicht gut für Kinder. Kinder brauchen verlässliche Bezugspersonen und eine sichere Umgebung.
Sozialverhalten, Empathie und die Kontrolle über ihre eigenen Gefühle zu haben, müssen Kinder erst lernen. Das tun sie auch, indem sie beobachten wie andere Menschen in ihrem Umfeld sich verhalten. Dauerhaft gestresste Eltern haben es dadurch doppelt schwer. Sie haben begrenzte Ressourcen, geduldig mit ihren Kindern zu sein und ihnen als sicherer Hafen zu dienen. Gleichzeitig fällt es schwer, Kindern Werkzeuge an die Hand zu geben mit Widrigkeiten umzugehen und ein Vorbild für emotional kompetentes Verhalten zu sein, wenn Eltern die Zeit fehlt, sich auch um sich selbst zu kümmern, sich zu erholen und es unmöglich erscheint, dem Alltagsstress zu entkommen. Gesellschaftlich aber auch in unserem privaten Umfeld muss es uns ein Anliegen sein, gerade Eltern von kleinen Kindern so gut es geht zu unterstützen und zu entlasten, auch und gerade zum Wohl der Kinder selbst.
Sie meinten an anderer Stelle, dass altruistisches Helfen „kostspielig“ ist – es einem also beispielsweise Zeit oder Ressourcen kostet – und auch dass Altruismus Verständnis, Empathie und Motivation erfordert. Könnten Sie das näher erläutern?
Es gibt in der Psychologie aber auch der Philosophie eine Debatte darum, ob es vollkommen selbstloses Helfen, echten Altruismus im engeren Sinn, überhaupt geben kann. Selbst wenn ich an eine gemeinnützige Stiftung spende, tue ich das nicht um mein eigenes Selbstbild aufzupolieren? Wenn ich einer kranken Nachbarin mit den Einkäufen helfe, denke ich nicht insgeheim daran, dass sie sich irgendwann dafür revanchieren wird? Bei vielen unserer prosozialen Handlungen schwingt ein Quäntchen Eigennutz mit. Dennoch würde ich von echtem Altruismus sprechen, wenn der Hauptfokus der Handlung eben auf die Verbesserung der Situation für eine oder mehrere andere Personen gerichtet ist und ich auch dann helfe, wenn es für mich einen einfachen Weg gäbe dies zu vermeiden. Schließlich kann man sich in der Regel vom Leid anderer Menschen auch abwenden und ablenken. Wer sich bewusst anderen zuwendet, die Hilfe brauchen und Dinge tut ohne eine Gegenleistung zu erwarten, handelt nach meinem Verständnis altruistisch. Um altruistisch zu handeln braucht es also grundlegend die Motivation sich anderen zuzuwenden und zu helfen, auch wenn es Zeit, Mühe oder materielle Ressourcen erfordert. Damit der anderen Person dadurch aber auch wirklich geholfen ist, ist zudem die Fähigkeit erforderlich sich in andere hineinzuversetzen und zwar sowohl gedanklich (Was braucht bzw. was will die Person?) als auch emotional (Wie fühlt die Person?). Darin werden Kinder im Verlauf der Kindergarten- und Schulzeit immer besser. Die grundlegende Motivation anderen zu helfen, auch wenn es Zeit und Mühe kostet, bringen bereits Kleinkinder mit.
Wie kann es uns allen momentan trotz oder gerade wegen der herausfordernden Situation für viele in der Gesellschaft am besten gelingen, Altruismus zu praktizieren?
Hier muss ich wieder darauf zurückkommen, dass social distancing eigentlich ein fehlleitender Begriff ist. Gerade angesichts der aktuellen Herausforderungen ist es ganz zentral, sich auf die Menschen zu besinnen, die einem wichtig sind und enge soziale Beziehungen eher zu stärken, auch auf physische Distanz! Eine Kollegin von mir an der University of Nottingham hat eine weltweite Studie mit über 6.500 Personen durchgeführt, um besser zu verstehen, was Menschen dazu bringt, sich an die Empfehlungen zur Eindämmung der Covid19 Pandemie zu halten. Auch hier ist viel Verzicht notwendig: Man verzichtet darauf zu reisen, liebe Menschen zu treffen, in Restaurants zu essen und vieles mehr, auch dann wenn man sich selbst gar nicht einer Risikogruppe zuordnet und scheinbar keinen unmittelbaren Nutzen davon hat. Das ist altruistisch! In der Studie meiner Kollegin stellte sich nun heraus, dass Menschen sich in ihrem Verhalten während der Pandemie vor allem an ihrem engen sozialen Umfeld orientieren. Wenn ich denke, dass meine Freunde und Familienangehörigen sich an die Regeln halten, ist es wahrscheinlicher, dass ich dies auch tue, auch wenn ich möglicherweise gar nicht von den geltenden Regeln oder Empfehlungen überzeugt bin oder für mich selbst kein großes Risiko annehme. Für politische Entscheidungsträger*innen ist dies eine wichtige Botschaft: Um Menschen zu überzeugen, für das Gemeinwohl ihr Verhalten zu ändern ist es vor allem wichtig an den Sinn von Gemeinschaft zu appellieren und auf die Wirkung von engen Freundes- und Familienkreisen zu setzen. Dies dürfte deutlich wirksamer zu sein, als jede einzelne Person von der Sinnhaftigkeit der Regeln zu überzeugen oder gar durch Schüren von Furcht oder Schuldzuweisungen eine Verhaltensänderung herbeizuführen.
Welche praktischen Tipps können Sie Eltern geben, die Entwicklung von Tugenden wie Altruismus bei ihren Kindern zu fördern?
Schon Kleinkinder helfen bereitwillig anderen Menschen, wenn sie die Ziele und Bedürfnisse der Person nachvollziehen können und in der Lage sind zu helfen. Eine Studie von Kollegen am MPI für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat gezeigt, dass man Kinder für solches Verhalten nicht materiell belohnen sollte. Eine Belohnung für Hilfeverhalten macht es eher unwahrscheinlicher, dass das Kind später noch einmal hilft, wenn es nicht belohnt wird. Es scheint, dass Kinder eine ureigene intrinsische Motivation besitzen, anderen Menschen zu helfen, die durch materielle Belohnungen sogar reduziert werden kann. Statt Belohnungen empfehle ich daher: Helfen Sie Ihrem Kind zu lernen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, indem sie viel über Gedanken und Gefühle sprechen. Dies funktioniert gut im Alltag, aber auch z.B. mittels Büchern und Geschichten. Zudem schauen sich Kinder wie bereits erwähnt viel von ihren Bezugspersonen und anderen Menschen in ihrem Umfeld ab. Wenn prosoziales Verhalten für Ihr Kind im Alltag normal ist, wird es sich auch selbst eher so verhalten.